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Sportsucht

Neulich las ich zum Thema Sportsucht einen sehr interessanten Artikel des deutschen Sportpsychologen Oliver Stoll. Darin wird (unter anderem) angesprochen, welche Kriterien dafür gelten sollen. Für Drogen- oder Alkoholsucht sind die Kriterien relativ klar definiert. Was aber ist Sportsucht aus der Sicht eines Psychotherapeuten, der zum einen mit klassischen Abhängigkeitserkrankungen, mehr und mehr aber auch mit neueren und substanzunabhängigen Sucht-Formen wie Game-Sucht konfrontiert ist.

Wohin treibt es jemanden mit Sportsucht? Ins Licht? Zu nah an die Sonne?

Sportlerin oder Süchtige?

Wie der Zufall es will, weilte ich zum Zeitpunkt der Lektüre von Stolls Artikel in den Bergen, selbst nicht untätig, täglich unterwegs auf Rollskiern und oder wandernd zu Fuss – wenn auch im reinen Genusstempo. Auf einer der Bergtouren im Aletschgebiet kam uns auf gut 2100 m. ü. M. rennend eine junge Sportlerin entgegen. Sie schnaufte heftig, orientierte sich kurz, rannte weiter – in einem für meine Begriffe hohen Tempo. Nun, ich bin Ausdauersportler seit ewigen Zeiten, aber auch Psychotherapeut für junge Erwachsene zwischen 16 und 25. Wir wurden begleitet von einem befreundeten Paar, wobei sie Fachärztin für Jugendpsychiatrie ist. Es ist klar, wohin die Diskussion führen musste - zur zugegebenermassen sehr dünnen Figur der Sportlerin. Ich vertrat die Meinung, dass Bergläufer und -innen genau so aussehen (müssen), und in meinen Augen bot ihre Beinmuskulatur einen Hinweis auf eine gesunde Ernährungsweise. Meine Berufskollegin hingegen war sich nicht ganz so sicher, sah Anzeichen für Magersucht. Da wir uns beide den Spass nicht verderben wollten, war das Streitgespräch schnell beendet. Ich begegnete der Läuferin weiter oben nochmals, nachdem ich mir alleine einen kleinen Berg vornahm. Sie war immer noch sehr schnell unterwegs.


Rund fünf Stunden später sitze ich mit einem Freund vor einem Supermarkt, er mit einem Bier in der Hand, ich mit einem Energydrink, beide die Sonne geniessend, beide ziemlich müde nach der langen Tour. Da joggte wiederum mit hohem Tempo die bereits bekannte Sportlerin an uns vorbei, diesmal nicht in Sportkleidung, sondern im Freizeitlook und mit dem Smartphone in der Hand. Und gut zehn Minuten später wieder zurück. Nun war’s auch bei mir vorbei mit dem Verständnis. Zumal es trainingstechnisch überhaupt keinen Sinn macht, nach einem ohne Zweifel anstrengenden Trailrun in weit über 2000 Metern Höhe, in Jeans durch den Ort zu joggen.


Drogensucht vs Sportsucht

Da fiel mir wieder der Artikel von Stoll ein. Nun dachte ich etwas intensiver über Sportsucht nach.


Die Kriterien für klassische Substanzsucht sind:

1. Wiederholter Substanzgebrauch, der zum Versagen bei wichtigen Verpflichtungen in der Schule, bei der Arbeit oder zu Hause führt.

2. Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann.

3. Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme

4. Toleranzentwicklung charakterisiert durch ausgeprägte Dosissteigerung oder verminderte Wirkung unter derselben Dosis

5. Entzugssymptome oder deren Linderung bzw. Vermeidung durch Substanzkonsum

6. Einnahme der Substanz in größeren Mengen oder länger als geplant

7. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.

8. Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum der Substanz oder um sich von ihren Wirkungen zu erholen

9. Aufgabe oder Einschränkung wichtiger Aktivitäten aufgrund des Substanzkonsums

10. Fortgesetzter Konsum trotz körperlicher oder psychischer Probleme

11. Craving, das starke Verlangen nach der Substanz


Diese Kriterien können bei stoffungebundenen Abhängigkeitserkrankungen kaum angewendet werden. Stoll stellt daher in seinem Artikel andere Kriterien vor und spricht dabei von Merkmalen pathologischen (krankhaften) Sporttreibens.


1. Fokussierung (auf die körperliche Aktivität)

2. Entzugserscheinungen (wenn keine körperliche Aktivität umgesetzt werden kann)

3. Risiko, weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erleiden, wenn trotz Verletzung oder Krankheit weitere körperliche Aktivität durchgeführt wird

4. Tolerieren möglicher Konflikte im sozialen Bezugssystem

5. Toleranzentwicklung (Dosissteigerung)

6. gezieltes Erzeugen positiver Stimmungs­modifikation („Feeling-Better-Phänomen“)

7. wahrgenommener Zwang bzw. Intentionalität, d.h. die betroffene Person nimmt ihr Verhalten als fremdgesteuert wahr und erlebt damit so etwas wie einen Kontrollverlust

8. hohe Gefahr des Rückfalls in frühere, extreme Suchtverhaltensweisen


Analyse

Gehen wir deshalb diese Punkte durch, nun aus der Sicht des Sportlers (also nicht des Psychologen). 1. Fokussierung: na hoffentlich – sonst gibt das nichts. Selbst ohne Wettkampf empfiehlt sich eine Fokussierung auf die Aktivität. 2. Entzugserscheinungen: nicht ganz leicht nachzuvollziehen, zumal sich diese Entzugserscheinungen sehr stark unterscheiden von denen einer Drogen- oder Alkohol-abhängigen Person. Wer unter uns Sportlern kennt das nicht, dass er oder sie das Reissen spürt. Aber wie stark ist dieses bei einer nach Sport süchtigen Person? 3. Risiko weiterer gesundheitlicher Schäden: kenne ich gut, sehr oft viel zu früh wieder angefangen mit Sport, einmal mit der Folge einer sich herauszögernden Verletzung der Achillessehne. War ich damals sportsüchtig? 4. Tolerieren von Konflikten im sozialen Netzwerk: dafür braucht's nicht einmal sehr viel Sport, das kommt enorm auf den Partner, die Partnerin an. Wer Triathleten beobachtet, so richten diese ihr ganzes Leben nach dem Sport, der Sport wird zum Lifestyle (neudeutsch für: Leben). 5. Toleranzentwicklung: auch hier gilt "na hoffentlich", kann auch übersetzt werden mit Trainingsanpassung - der Trainingsumfang kann gesteigert werden. Hierbei ist höchstens das Problem, dass viele Breitensportler zu schnell zu viel wollen. Das führt bei den stoffgebundenen Abhängigkeitskrankheiten in der Regel zu einer tödlichen Überdosis, im Sport dagegen zu Verletzungen oder Übertraining. 6. Das Feeling-Better-Phänomen: so geht's mir fast immer nach Sport. Ich fühle mich gut oder gar besser. Wie häufig wird uns (von der Politik, von Krankenkassen, von unseren Arbeitgebern, …) geraten, mehr Sport zu machen, weil wir dann fitter sind und uns besser fühlen (und, Achtung: Neoliberalismus, mehr zu leisten imstande sind). 7. Der Zwang zum Sport: das halte ich tatsächlich für das ausschlaggebende Symptom eines krankhaften Umgangs mit Sport – wobei es auch hier vermutlich massive graduelle Unterschiede gibt. 8. Rückfallgefahr: ganz ehrlich, manchmal vermisse ich die Zeit, als ich sie noch hatte, um so richtig viel zu trainieren. Es hat nämlich auch Spass gemacht. Von daher könnte ich für Rückfall-gefährdet gehalten werden, und, nochmals ganz ehrlich: wenn der Körper könnte, würde ich auch wieder, aber, nein, eigentlich auch nicht, weil, naja, ich bin auch froh, habe ich heute Zeit für viele andere Sachen.


Aus dem obigen Abschnitt lässt sich leicht erkennen: ich habe ein wenig Mühe mit den vorgegebenen Kriterien. Sie sind nicht falsch – und trotzdem reichen sie vermutlich nicht, um Sportsucht als eigene Diagnose genügend einzugrenzen. Vielleicht ist der Begriff Sucht falsch. Wie gesagt habe ich beinahe täglich mit „klassischen“ Abhängigen zu tun: mit Substanzabhängigen (substanzgebunden), aber auch Game-Süchtigen (substanzungebunden). Von daher neige ich mitunter dazu, Sportsüchtige (so es sie denn gibt) eher als Zwangsneurotiker oder Impulskontrollgestörte zu bezeichnen. Wobei auch diese Begriffszuordnung Schwierigkeiten birgt. Ein Zwang macht keinen Sinn (er hat eine Funktion und damit auch einen Sinn, ich weiss) und der Zwangsneurotiker weiss das in der Regel, kann sich dagegen aber nicht wehren. Sport macht eigentlich immer Sinn, sei es, um sich auf einen Wettkampf vorzubereiten, sei es zum Erhalt der Gesundheit (auch wenn die Menge an Sport dies schon längst nicht mehr tut). Bei der Impulskontrollstörung könnte man (spekulativ) davon sprechen, dass der oder die Sportsüchtige immer noch im kleinkindlichen (narzisstischen) Lustbefriedigungsmodus steckt, aus welchen Gründen auch immer.


Sämtliche biologischen Erklärungsversuche scheitern in meinen Augen daran, dass nach wie vor unklar ist, ob Verhalten durch determinierte biologische Prozesse entsteht, oder ob äussere Umstände die biologischen Prozesse neu definieren. Das ist abgesehen davon auch schwer zu prüfen.


Kick bei Drogen! Kick im Sport?

Bei der Drogensucht geht es letztlich um ein reines „Genuss“-Ziel: den Flash, den Kick, den Trip, was auch immer. Für diesen mache ich mich auf die Suche nach der Substanz. Wohingegen wir beim Sport (und vermutlich den meisten anderen Verhaltensformen) von einer eigentlichen Zielorientierung sprechen können. Wir orientieren uns an einem wie auch immer gearteten „höheren“ Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, muss ich mich vorbereiten (ein ziemlich grosser Unterschied zu Substanzabhängigkeit). Das mit den körpereigenen Opiaten kennen wir, nur können wir nicht darauf zählen, das bei jedem Training zu erreichen. In einem Artikel von Irene Habich in der Zeit (52/2016) ist zu lesen, dass der Begriff "zwanghaftes Sportverhalten letztlich treffender sei“. Der das sagt, ist Ulrich Voderholzer, ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee. Zwangsstörungen dienen typischerweise der Abwehr von Ängsten. "Vielen der Betroffenen geht es eher um die Vermeidung unangenehmer Gefühle durch den Sport, derer sie sonst nicht Herr werden", erklärt der Psychiater. Anders als bei einem Rausch stehe nicht der Wunsch im Zentrum, gute Gefühle zu bekommen (Habich in: DIE ZEIT Nr. 52/2016, 15. Dezember 2016).

Ironman - Anlass für Süchtige

Erinnern wir uns an den ersten Ironman 1978, basierend auf einer Bieridee, geboren auf Hawaii, vorher für absolut unmachbar gehalten, schliesslich durchgeführt von einem Dutzend Durchgeknallter, vom ersten gefinisht in über 12 Stunden, einer im damaligen Verständnis unglaublichen Zeit. Und heute? Heute nehmen jährlich weltweit Hundertausende an einem Rennen über die Ironman-Distanz teil. Früher zwölf (in den Augen sehr vieler) gestörte aber nichtsdestotrotz grossartige Hasardeure, die eine Bieridee konsequent durchgezogen haben. Und heute? Naja, lassen wir das.


Vielleicht kann man am ehesten davon sprechen, dass jemand ein übertriebenes (abnormales) Verhältnis zu einer als Freizeit/Hobby bezeichneten Tätigkeit hat (ähnlich wie der workoholic, der schliesslich auch in keinem psychiatrischen Diagnostik-System existiert). Es gibt auch Menschen, die ein (in meinen Augen) übertriebenes Verhältnis zu Modelleisenbahnen haben oder zu ihrem Hund oder zu Autos – ich benutze mit Absicht nicht das Wort gestört.


Die Suche nach der "Sucht"

Sucht scheint – zumindest auf deutsch – ein schwieriger Begriff, schwer zu fassen, schwer zu definieren. Nehmen wir andere psychiatrische Diagnosen, die umgangssprachlich gerne mit der Endung Sucht versehen werden: Magersucht, Ess-Brech-Sucht, Ess-Sucht. Drei „Süchte“, die alle mit Essen zu tun haben. Die Fachbegriffe, die dafür verwendet werden, lauten: Anorexie, Bulimie, Binge-Eating. Es geht nicht um Sucht an sich, die Störung dahinter reicht weiter. Manchmal hilft es, das direkte Verhalten anzugehen, immer aber muss in einer Therapie versucht werden, die zugrunde liegende (Ver-)Störung zu erkennen. Mit anderen Worten: bevor wir von Sportsucht sprechen, sollte die Frage gestellt werden, was mit dem vielen Sport erreicht werden soll. Eine Frage, die sich substanzabhängigen Menschen kaum mehr stellen lässt, weil sie dauernd zugedröhnt oder weggetreten sind. Zudem wird mit der Ausdehnung auf Alltagswelten auch der Begriff Sucht verharmlost oder gar verniedlicht. Genau wie beim workoholic auch ein wenig Bewunderung mitklingt, sind Sportsüchtige eigentlich um ihre Gesundheit bemüht oder auch einfach lustige Spinner auf der Suche nach den Extremen. Der Begriff Sucht hilft da einfach nicht weiter.


Literatur:

Stoll, O. (2017). Sportsucht. Psychotherapie im Dialog 18 (01), S. 66 – 69.

Mauch, U. (2019). Die Triathletin und die Sportsucht. kurier.at/gesund/die-triathletin-und-die-sportsucht/400578467

Habich, I. (2016). Über die Schmerzgrenze. zeit.de/2016/52/sportsucht-training-abhaengig-koerper-schaden/komplettansicht

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